Jeannette Oholi (Justus-Liebig-Universität Giessen)
Es gibt immer wieder Momente, in denen ich keine Hoffnung mehr habe. Es sind diese Momente, wenn mir Fragen und Kommentare entgegen geschleudert werden wie, “Gibt es überhaupt Schwarze Autor*innen in Deutschland?,” “Dass du dich in deiner Forschung auf England und Frankreich konzentrierst, ist klar – aber Deutschland?,” oder—besonders beliebt seit den Black Lives Matter Protesten 2020—“Schwarze deutsche Literatur – dazu arbeitet jetzt ja jeder*r.” Es kostet viel Energie, Schwarze deutsche Literatur und Geschichte in der Germanistik zu erforschen und sichtbar zu machen. Und doch gibt es auch andere Momente, in denen ich durchatmen kann. Es ist die Zärtlichkeit, an die ich mich noch lange erinnern werde. Die Zärtlichkeit in den Worten, in den Gesten, Gesichtern und im Umgang der Anwesenden miteinander. “So kann eine Literaturveranstaltung also auch sein,” denke ich mir nach dem dreitägigen Schwarzen Literaturfestival Resonanzen. Was wäre alles in den Literaturwissenschaften und den Literaturbetrieben möglich, wenn die Herzen und Ohren so geöffnet wären wie bei diesem Festival? Resonanzen fand im Rahmen der Ruhrfestspiele vom 19. bis zum 21. Mai in Recklinghausen statt. Angelehnt an den Bachmannpreis, der jährlich in Klagenfurt vergeben wird, lasen die sechs Schwarzen Autor*innen Joe Otim Dramiga, Melanelle B. C. Hémêfa, Raphaëlle Red, Bahati Glaß, Winni Atiedo Modesto und Dean Ruddock ihre Geschichten vor, die sie rund um das Impulswort “Erbe” verfasst hatten. Eine Jury aus vier Schwarzen Literaturexpert*innen—Aminata Cissé Schleicher, Elisa Diallo, Ibou Coulibaly Diop und Dominique Haensell—kam im Anschluss einer jeden Lesung auf die Bühne und diskutierte die Texte. Nun könnte man denken, es handelte sich um eine Literaturveranstaltung wie jede andere. Für mich war es jedoch eine ganz besondere Erfahrung, die ich so noch nie gemacht habe. Schwarze Autor*innen und ihre Literatur standen in einer öffentlichen Veranstaltung als Teil eines etablierten Festivals im Mittelpunkt. Es vollzog sich eine wahrnehmbare Verschiebung: Schwarze deutsche Literatur wurde sichtbar und trat aus der ihr zugeschriebenen Nische heraus. Selbstbewusst bildete sie in den drei Tagen das Zentrum der Aufmerksamkeit. Diese Verschiebung stellt eine Selbstermächtigung, ein Empowerment, dar. Initiiert und kuratiert wurde das Literaturfestival von Sharon Dodua Otoo. Otoo gewann im Jahr 2016 den angesehenen Bachmannpreis und ihr im Jahr 2021 erschienener Roman Adas Raum wurde hoch gelobt. Mit Adas Raum hat Otoo ein Ausrufezeichen gesetzt, das schreit, seht her, was in der deutschen Gegenwartsliteratur alles möglich ist. So lobt Hanna Engelmeier in der Süddeutschen Zeitung die “filigrane Konstruktion eines Romans, der formal auf Brüche, Auslassungen und Suggestionen setzt und damit dem Publikum erfreulich viel Eigenarbeit dabei zutraut” (Engelmeier 2021). Und auch die sechs Kurzgeschichten des Literaturfestivals trauen dem Publikum einiges zu: Sie erklären nicht alles, sondern sowohl die Jury als auch das Publikum sind immer wieder dazu angehalten, selbst Verbindungen herzustellen. Beeindruckt von der Vielfalt der Kurzgeschichten frage ich mich, wie viele Schwarze Autor*innen ich noch nicht kenne, die zu Hause, in Cafés oder auf einer Parkbank schreiben und wunderbare Texte erschaffen. Das Schwarze Literaturfestival macht sehr deutlich, was diesem Land, das sich unaufhörlich mit großem Stolz als Heimat der Dichter*innen und Denker*innen erzählt, doch alles durch seine Ignoranz und seine rassifizierenden Ausschlüsse entgeht. Die Reaktion des Publikums zeigt mir in diesen Tagen, wie sehr sich viele Menschen nach literarischen Texten sehnen, die andere Perspektiven, Geschichten, Ästhetiken und Themen enthalten. Auch Sharon Dodua Otoo betont in einem Interview, dass Diversität in der Literatur für die gesamte Gesellschaft bereichernd ist: “Es wird unterschätzt, dass auch Menschen, die zur sogenannten Dominanzgesellschaft gehören, von diverser Literatur profitieren. Die unterschiedlichen Geschichten und Perspektiven sind für uns alle wichtig” (Caldart 2022). Das Schwarze Literaturfestival hat einen Raum geschaffen, in dem diese vielfältigen Geschichten und Perspektiven diskutiert werden konnten. Es ist nicht die Aufgabe von Schwarzen Autor*innen, einem weißen Publikum Rassismuserfahrungen näher zu bringen. Dafür sind bereits genug Anti-Rassismus-Ratgeber in den letzten Jahren erschienen. Aus den Gesprächen mit Menschen aus dem Publikum und deren Reaktionen auf das Literaturfestival nehme ich etwas ganz anderes mit: die Begeisterung und die Freude an sowie das Ergriffensein von Schwarzer deutscher Literatur. Auch ich spüre während des Festivals viele Emotionen zugleich. Sei es, weil mich ein Text nachdenklich macht, ich Neues lerne, ich begeistert bin von der Poetik einer anderen Autorin oder mich das Ende eines anderen Textes schockiert. Ist es nicht genau das, was gute Literatur ausmacht? Während der Planung des Literaturfestivals empfand ich den Festivaltitel Resonanzen als etwas abstrakt. Nach den drei Tagen kann ich aber verstehen, warum Otoo sich dafür entschieden hat. Ich war noch nie gut in Physik, aber finde die Vorstellung eines Körpers, der durch Energiezufuhr selbst zu schwingen beginnt, ein schönes Bild. Denn auch während des Literaturfestivals habe ich diese Schwingungen gespürt, die sich von Mensch zu Mensch—und Herz zu Herz—übertragen haben. Das Literaturfestival hat Resonanzen und Verbindungen geschaffen. Zwar waren die Texte der sechs Autor*innen sehr unterschiedlich—Schwarze deutsche Literatur ist vielfältig!—und doch sind sie miteinander verbunden. Sie sind Teil einer Schwarzen Literaturtradition, die über Deutschland hinausgeht. Die Texte bilden eine Community, die Teil einer größeren Gemeinschaft ist: die der afrikanischen Diaspora. Diese ist heterogen und gibt seit Jahrhunderten Wissen, Kunst und Geschichte(n) von Generation zu Generation weiter. Otoo spricht in einem Interview von einem “Resonanzraum” (Caldart 2022) und beschreibt die Idee zum Festival so: “Mir geht es darum zu überlegen, was sich die Geschichten gegenseitig und im Hinblick auf andere literarische Werke, andere afrodiasporische Texte erzählen. Das ist für mich Resonanz: Wenn eine Schwarze Person einen Text schreibt und Würdigung in einem Raum findet, weil Lesende wissen, was gemeint ist, worauf der Text Bezug nimmt, an was er erinnert” (Caldart 2022). Resonanzen sind somit die Folge eines vielschichtigen Zusammenspiels von Verbindungen, Bezügen, gemeinsamen Wissen, Austausch, Anerkennung und Erinnerungen. Das bringt mich zum Impulswort “Erbe.” Denn, so wird mir nach dem Literaturfestival bewusst, nicht nur die Autor*innen sind Erb*innen, die eine Schwarze Literaturtradition mitgestalten, sondern auch ich bin eine Erbin. Die Anwesenheit von Nouria Asfaha und Aminata Cissé Schleicher macht mir bewusst, dass ich kaum Kontakt mit älteren Generationen Schwarzer Menschen in Deutschland habe. Das muss sich ändern. Denn auch ich baue auf den Kämpfen von Schwarzen Aktivist*innen auf und bin dankbar dafür, dass sie an mich ein so reiches Erbe weitergeben. Ich sehe es daher auch als meine Aufgabe an, dieses Erbe, das zur deutschen Geschichte und Gesellschaft gehört, vor der Vergessenheit zu bewahren. Als ich im Zug zurück nach Hause sitze, muss ich an die Schwarze deutsche Dichterin, Wissenschaftlerin und Aktivistin May Ayim denken. Es gibt einen Film über sie, der ihr Leben und Schaffen porträtiert, und der Hoffnung im Herz (1997) heißt. Der Filmtitel ist dem Gedicht “nachtgesang” entnommen, das das Ende einer Liebe, das Loslassen wie auch einen Neuanfang thematisiert. Ich sehe das Schwarze Literaturfestival als einen Anfang, dem ein gewisser Zauber innewohnt. Auch ich trage nun wieder Hoffnung im Herz. Bibliographie Caldart, Isabella. “Türen öffnen – Interview mit Sharon Dodua Otoo über das Schwarze Literaturfestival ‘Resonanzen’”. 54 books, https://www.54books.de/tueren-oeffnen-interview-mit-sharon-dodua-otoo-ueber-das-schwarze-literaturfestival-resonanzen/ (Accessed June 23, 2022). Engelmeier, Hanna. “Die alles verbindenden Dinge”. Süddeutsche Zeitung, https://www.sueddeutsche.de/kultur/rezension-sharon-dodua-otoo-adas-raum-identitaetspolitik-1.5220018 (Accessed June 23, 2022).
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